Parentifizierung und langfristige Folgen für Kinder

Das Kind als Partnerersatz, als Tröster und Therapeut für Erwachsene: Nun könnte man meinen, die Zeit heilt alle Wunden. Irgendwann sind die alten Beziehungsmuster von alleine vorbei, denken viele. Aber weit gefehlt! Gerade bei der Rollenumkehr von Kindern und Eltern kann es sowohl unmittelbare Folgen als auch Spätfolgen haben. Diese Seite behandelt die Folgen der Parentifizierung, u. a. die Überverantwortlichkeit.

Wenn Kinder von ihren Eltern oder dem Familiensystem den expliziten oder impliziten Auftrag erhalten, Verantwortung für die Eltern und die Familie zu übernehmen, kann das gravierende Folgen haben. Mit der Zuschreibung einer nicht kindgerechten Verantwortung hört in vielen Fällen die Kindheit auf. Von einem Tag auf den anderen kann das Kind in eine Verstrickung geraten, aus der es schwer entkommen kann.

  • Der Vater offenbart dem Kind, dass die Mutter einen Liebhaber hat
  • Die Mutter sucht Trost beim Kind, weil der Vater sich in die Arbeit flüchtet
  • Beide Eltern tragen vor den Kindern Feindseligkeiten aus – die anwesenden Kinder geraten in einen massiven Loyalitätskonflikt, weil sie beide Eltern, Mutter und Vater lieben wollen
  • Parentifizierung kann zu einem Verlust von Tatendrang und Spieltrieb führen, wenn mit einem Mal der Auftrag in der Luft liegt, z. b. die Mutter glücklich zu machen oder von ihrer massiven Überlastung zu befreien.
  • Oft sind es intime Geständnisse eines Elternteils, die bis in Details aus dem Ehebett reichen. Ein Kind oder ein Jugendlicher wird mit etwas konfrontiert, das sowohl im jungen Alter zu viel ist als auch später. Wer möchte schon wissen, was im Liebesleben der Eltern stimmt und was nicht? Ist so etwas einmal ausgesprochen, kann es natürlich nie wieder zurückgenommen werden. Hiermit kommt es zur unwiderruflichen, unfreiwilligen Mitwisserschaft des Kindes.

Aus Sicht des Elternteils werden hiermit Verbündete geschaffen. Ab diesem Moment ist es für das Kind meistens schwierig, dem Elternteil unbefangen zu begegnen, weil da etwas mitgeteilt wurde, das ein Kind nichts angeht.

Was sind äußerlich feststellbare Folgen familiärer Rollenumkehr?

Der hohe Preis: vermeintlich höhere Ziele als „nur“ Kind zu sein

Ungewollt wird das Kind mit einem Akt der Einweihung in Erwachsenenthemen aus seiner sorglosen Kindheit gerissen, „muss“ sich mit einem Mal Gedanken über „höhere Ziele“ als die eigenen machen. Es kann bereits im Kleinkindalter beginnen. Das Kind „bekommt“ eine viel zu große Aufgabe. Mit verhängnisvollen Folgen.

Denn da diese viel zu große Aufgabe im Rahmen der Parentifizierung oft der einzige Punkt ist, in dem es sich Anerkennung erhoffen kann, nimmt das Kind die Aufgabe an. Das Kind versucht, alles richtig zu machen. Immer mit dem wachsamen Blick und Ohr in Richtung der streitenden, depressiven, aggressiven oder anderweitig auffälligen Eltern bzw. Mutter oder Vater. Das Kind ist ständig im Einsatz, kommt kaum zur Ruhe.

Perfektionismus als Folge von Parentifizierung

Wer von einem Elternteil eine Einladung (meistens ist es eine Verpflichtung) zur Rollenumkehr erhalten hat, sieht sich einem hohen, nicht erfüllbaren Leistungsdruck ausgesetzt. Natürlich ist es einem Kind oder einem jugendlichen Menschen nicht möglich, eine Erwachsenenrolle einzunehmen und in dieser zu bestehen.

Wenn aber der Anspruch aufrechterhalten wird, kann der oder die Heranwachsende alles daran setzen, die unlösbare Aufgabe über eine „Selbstoptimierung in der Rolle des Parentisierten“ doch irgendwie zu lösen, also die Mutter glücklich zu machen oder den Vater erfolgreich. Mit perfektionistischem Streben kann das Kind danach eifern, alles herauszufinden und alles zu unternehmen, jedes nur erdenkliche Opfer zu bringen, um die Aufgabe zu erfüllen.

Das wollen wir erst mal sehen. Diese Aussage kann sich zu einer Grundhaltung gegenüber anderen zu großen Projekten entwickeln.

Gelingt dies – erwartungsgemäß – nicht, kann es in der Folge zu einem anderen Phänomen kommen. Die permanente Überforderung kann in Zustände eigener psychische Auffälligkeiten führen.

Eltern überfordert - Kind macht Haushalt

Eltern überfordert – Kind macht Haushalt

Überverantwortlichkeit – immer für andere da

Überverantwortlichkeit (oder Überverantwortung) ist eine der Folgen von Parentifizierung. Die ständige Sprungbereitschaft ist ein schwieriger Zustand. Woher sollen Kinder, die sich verantwortlich für ihre Eltern fühlen, Sicherheit für das eigene Leben finden? Wege aus der Überverantwortlichkeit kann jede und jeder finden, aber es braucht hierfür zunächst ein Problembewusstsein.

Wer in der Überverantwortung gefangen ist, hat kaum Luft und Raum, sich dieses Zustands bewusst zu werden. Sie können aber einen einfachen Test machen. Stellen Sie sich vor, Sie würden der Person, für die Sie sich sehr verantwortlich fühlen, eine Absage erteilen. Sie würden bei der nächsten Gelegenheit sagen: Heute nicht, ich muss heute auch mal an mich denken. Es reicht schon die Vorstellung einer solchen Situation, um die entstehenden Gefühle zu identifizieren.

Wie fühlen Sie sich dabei, wenn Sie (erst einmal nur in Gedanken) auf Ihr Gefühl achten und zu sich folgenden Satz sagen?

„Jetzt kommt es wirklich einmal ganz auf mich an“

Fühlen Sie innerliche Zustimmung? Oder sträubt sich alles in Ihnen, weil Sie eine Lawine von Vorwürfen, eine gerunzelte Stirn oder ein schlechtes Gewissen erwarten? Womöglich könnten (vorsichtig ausgedrückt) leichte Tendenzen zur Überverantwortlichkeit vorhanden sein …

Autoritätskonflikte oft vorprogrammiert

Häufige Autoritätskonflikte zählen ebenfalls zu den Folgen und können daher ein Indiz für eine Rollenumkehr in einem Familiensystem sein. Wenn jener Autoritätskonflikt nicht aufgeklärt und beseitigt werden kann, der zu Hause besteht – also die gesunde Distanzierung eines parentifizierten Kindes aus seinem Erwachsenenstatus, werden Stellvertreter für den Konflikt der umgedrehten Generation gesucht.

So legt sich womöglich ein Mann, der es zeitlebens nicht geschafft hatte, eine gesunde Nähe-Distanz-Regulierung zu seiner dominanten Mutter aufzubauen, ersatzweise mit Autoritätspersonen im Beruf an. Oder er entwickelt eine grundsätzliche Abneigung gegen „die da oben“ – alles erscheint als weniger schmerzhaft als der Person, die Parentifizierung betrieben hatte, den notwendigen Autoritätskonflikt zuzumuten.

Weitere Folgen: unbewusste Versorgungswünsche und ein Helferkomplex

Oft bilden unbewusste, verdrängte Versorgungswünsche die Grundlage für den Versuch, die eigenen Kinder für sich einzuspannen. Keiner nimmt sich vor, eine Parentifizierung zu starten. Es sind eigene Anliegen, die auf das Kind übertragen werden.

  • Der Versorgungswunsch des Elternteils, das soeben vom Partner verlassen wurde, könnte unbewusst darin bestehen, vom Kind einen Ausgleich für die entgangene Zuneigung zu erhalten.
  • Der tiefe, verdrängte Wunsch nach Versorgung mit Aufmerksamkeit kann auf den Grundkonflikt eines Menschen hinweisen:
  • Ich bin mir selbst nicht gut genug, und indem ich mich passiv präsentiere, musst du (Partner / Kind) aktiv werden.

Und so entstehen als Folge der Rollenumkehr zwischen Elternteilen und Kindern umgedrehte Versorgungsbeziehungen. Wo eigentlich eine emotional und sozial vertraute, intensive Beziehung bestehen sollte, wird eine auf dem Kopf stehende Versorgungsbeziehung sichtbar, die mit einer Infragestellung des Kindeswohles einhergehen kann. Kindeswohl bezieht sich in diesem Zusammenhang nicht nur auf die juristischen Strukturen, sondern auch auf den Aspekt des subjektiven Wohlergehens.

Psychische Langzeitfolgen der Parentifizierung

Aus Perfektionismus kann Einsamkeit entstehen. Wenn das Kind wegen des speziellen Bündnisses mit Vater oder Mutter keine Zeit und keinen Sinn mehr für Freunde und das kindliche Spiel hat, isoliert es sich. Wie oben schon beschrieben, gehört Selbstüberforderung zu den Folgen der Parentifizierung. Es kann sich ein Kreislauf aus vermindertem Selbstwertgefühl, Ohnmacht und Versagensängsten entwickeln. So lange die Bindung zu den Eltern auf Basis der Parentifikation bestehen bleibt, wirkt diese problemstabilisierend. Dies kann bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben.

Ohnmacht wegen Überforderung

Typisch für parentifizierte Kinder – übrigens auch erwachsene Kinder – ist die Ohnmacht. Einerseits würde das Kind von Herzen gerne, dass die Mutter wieder einen Mann findet oder der Vater von seiner Alkoholsucht geheilt wird; andererseits ist die Erkenntnis da, dass das Kind nichts ausrichten kann. Das wird um so schlimmer, wenn das gestörte Eltern-Kind-System keine Entlastung und Korrektur erfährt. Die Ohnmacht kann auch deshalb so lange bestehen bleiben, weil rein äußerlich betrachtet nichts unbedingt Schlimmes passiert. Viele Eltern-Kind-Beziehungen dieser Art können auf den ersten Blick sogar sehr innig wirken. Beim näheren Hinsehen wird deutlich: diese Innigkeit ist in Wahrheit eine Verstrickung.

Kaum Wahrnehmen der eigenen Anliegen und Bedürfnisse

Parentifizierte Kinder haben ein hochentwickeltes Gefühl für die Bedürfnisse – ihrer Eltern. Bei sich selbst haben sie lernen müssen, wegzusehen und nicht hinzufühlen. Wenn die Klasse auf Klassenfahrt ging. Oder wenn es vermieden wurde, Geburtstage zu Hause zu feiern (Mutter hat ihre Migräne, du weißt).

Auflösen der Parentifizierung

Welche Rolle hatte das Kind, so lange es im Verbund der Familie lebte? Wie sieht das Leben nach dem Weggang aus der Familie aus? Die begleitete und wertschätzende Auflösung der Rollenumkehr ist auf die Dauer der heilsamste Weg. Und dieser Vorgang braucht nicht zum Bruch mit der Mutter oder dem Vater zu führen. Ich empfehle ausdrücklich, einen Weg zu finden, der nicht zum Bruch der Beziehung zwischen Kindern und Eltern auf alle Zeit führt. Lesen Sie hier, wie eine Parentifizierung aufgelöst werden kann.

Parentifizierung im Erwachsenenalter

Johannes Faupel
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