Mutterkomplex, Mutterkonflikt, Ablösung von der Mutter und gute Beziehung zu ihr: Aspekte eines komplexen Themas

Viele Mutter-Sohn-Beziehungen werden durch die Idee von der Existenz eines Mutterkomplexes belastet. Beziehungen zwischen Müttern und Kindern sind natürlicherweise vielschichtig und erfahren mit fortschreitendem Alter aller beteiligten ihre Veränderungen. Diese Seite betrachtet den Mutterkomplex als antiquiertes Modell der Psychologie und stellt hilfreiche, zieldienliche Ansätze in Aussicht. Der Irrtum auf 2 Seiten: Mutter hält sich für unverzichtbar, Sohn ebenfalls.

Auf der Internetseite zur Parentifizierung darf er nicht fehlen: Der Mutterkomplex dient vielen Menschen – vor allem Männern – gleichsam als Entschuldigung oder Schuldzuweisung, wenn das eigene Leben nicht richtig läuft. Die Wortschöpfung Mutterkomplex geht auf die Ursprünge der Psychoanalyse zurück. Und ist entsprechend antiquiert. Welche anderen Sichtweisen gibt es auf das gleiche Phänomen? Welche Auswirkungen haben andere Bezeichnungen und Sichtweisen?

Mutterkomplex. Eine Phantomdiagnose füllt Psychotherapiepraxen und Lifestyle-Magazine

Bei der Google-Suche nach Mutterkomplex fällt auf: Es gibt kaum im diagnostisch-therapeutischen Sinne seriöse Informationsquellen. Überwiegend die Boulevardpresse beschäftigt sch mit diesem Begriff. Auch sonst findet er sich nur vage in der heutigen psychotherapeutischen Literatur.

„Infantile Neurose“ – dies trifft auf „Mutterkomplex“ gut zu

Es ist kein Geheimnis: Manche Männer erleben es als durchaus vorteilhaft, die Vorzüge eines gemachten Nestes unter Mutters Leitung zu nutzen. So lange es keine wirklich attraktiven Motive gibt, das Heim zu verlassen und in die Welt aufzubrechen, führen sie ein Leben als Nutznießer – nicht jedoch, ohne sich in der Welt draußen hin und wieder über die Verhältnisse daheim zu beklagen. Was als Mutterkomplex beschrieben wird, ist gar nicht unbedingt so komplex, sondern fast schon trivial: Ein Begriff sorgt scheinbar für Tatsachen. Wenn es das Wort gibt, dann gibt es wohl auch das Phänomen.

Johannes Faupel

Johannes Faupel

Autor: Johannes Faupel

Fachrichtung: Systemischer Therapeut und Berater SG, IGST

Position: Partner im Supervisionszentrum Frankfurt am Main
Veröffentlichungsdatum: 18. Juli 2020
Aktualisiert: 21. Januar 2024

Normale und gesunde Beziehungsphänomene werden oft pathologisiert

Bei aller berechtigten Kritik an den sogenannten „Übermüttern“, die angeblich nicht loslassen können: Es ist ein Naturgesetz, dass das Überleben des Säuglings vor allem von der (stillenden) Mutter abhängt.

Es ist außerdem naturgegeben, dass ein Kind, auch wenn es erwachsen ist, der Mutter niemals einen Ausgleich für das Erlangen des eigenen Lebens geben kann. Es bleibt somit auf irgendeiner Ebene rein rechnerisch in der Schuld der Mutter, wenngleich mir dieses Bild nicht gefällt. Ich erwähne es dennoch, um auf mehrere Phänomene hinzuweisen:

Gelingende Ablösung kann als „bezogene Individuation“ (Helm Stierlin) bezeichnet werden. Der Sohn bleibt Sohn, auch wenn er nicht mehr an der Brust der Mutter trinkt.

  • Im Idealfall erkennen beide das Ende dieser Mutter-Kind-Phase (Stillzeit) an und gestalten eine neue, reife Beziehungsphase.
  • Im weniger günstigen Fall signalisiert die Mutter dem Kind, dass es für die Mutter besser wäre, weiterhin gebraucht zu werden. Das eine Kind erkennt dies uns löst sich dennoch liebevoll; das andere Kind nutzt den Umstand der Dauerversorgung aus. Dies kann zu dem führen, was landläufig als Mutterkomplex bezeichnet wird. Nicht selten werfen Männer ihren Ehefrauen vor, wie die eigenen Mütter zu sein, dabei übertragen sie nur ihre insgeheime Bedürftigkeit nach Nachbeelterung in ungünstiger Weise auf die Beziehung. Ich betone, dass ich für alle aus dem zweiten, weniger günstigen Fall sich ergebenden Phänomene keine niedrigen Absichten (die Mutter / den Sohn ausnutzen) unterstelle.

Situation 1: Alle Verantwortung gebe ich meiner Mutter – dann muss ich schon keine Verantwortung für mich selbst tragen

Es gibt einen einfachen Weg, die Übernahme von Verantwortung für sich selbst zu vermeiden. Er ist sogar gesellschaftlich anerkannt und wird gelobt. Allerdings gibt es hier einen doppelten Boden. Die emotionale Rechnung lautet:

Ich bin doch so mit meiner Mutter (es kann auch der Vater sein) beschäftigt, dass mir kein Raum für mich bleibt.

Diese Hypothese zu widerlegen, fällt am Anfang schwer.
Doch es ist möglich.
In der systemischen Familientherapie stellt sich immer wieder heraus, dass es sich bei manchen Parentifizierungen durchaus um einen aktiven Prozess handeln kann:

„Aber sie kann doch nicht ohne mich.“

Also opfere ich mich auf. Nehme ihr alles ab. Der Preis für diese unbedingte Loyalität, die bis zur Aufopferung des eigenen Studiums oder Hausbaus reicht, ist hoch. Und eines Tages kommt dann doch die Rechnung:

Deinetwegen, Mutter (Euretwegen, Eltern), konnte ich mich nicht entwickeln.

Stimmt das?

Situation 2: Mein Kind soll sich um mich kümmern – für ein eigenes Leben ist immer noch Zeit

In dem Fall, in dem eine Mutter ihre Tochter bzw. ihren Sohn vollständig in ihren Dienst stellt, handelt sie nicht nur in egoistischer Weise. Sie nimmt ihr Kind auch in Schutz und „bewahrt“ es vor Entscheidungen.

Mein Kind soll sich sagen können, dass es immer für mich da war

Hypothesen aus den Anfangsjahren der Psychologie

C.G. Jung führte zum Thema Mutterkomplex aus: „Der Archetypus der Mutter bildet die Grundlage des sogenannten Mutterkomplexes.“ (9/1 § 161).

Jung ging davon aus, dass ein Mutterkomplex nur mit Beteiligung der Mutter entstehen kann. Dieser Theorie zufolge ist nach C.G. Jung die Mutter bei infantilen Neurosen beteiligt war (Gesammelte Werke Carl Gustav Jung 9/1 § 161). Zudem präzisiert Jung, dass sich der Mutterkomplex beim Sohn anders zeige als bei der Tochter.

Längst überholte Denkweisen

Wir sollten bei der Beobachtung und Beschreibung von Phänomenen darauf achten, nichts zu verdinglichen:

  • Frau Müller ist die Mutter von Herrn Müller. Dies lässt sich zweifelsfrei nachweisen.
  • Herr Müller hat einen Mutterkomplex, weil seine Mutter so oder anders ist / war. Dies ist eine Hypothese. Mehr nicht.

Mutterkomplex oder Mutterkonflikt?

In der Öffentlichkeit wird viel mit Begriffen hantiert, die nirgends näher erläutert werden. Somit entwickeln sie eine Eigendynamik. Beispiel ist „Der Mutterkonflikt“, der hier in einem Focus-Artikel zum Mutterkonflikt beschrieben wird. Mit keinem Wort jedoch weisen die Autoren darauf hin, was genau sie mit dem Mutterkonflikt meinen:

Verursacht das Verhalten der Mutter einen inneren Konflikt beim Kind? Hier wäre zu klären, welche impliziten wie expliziten Erwartungshaltungen seitens der Mutter beim Kind ankommen.

Ist mit Mutterkonflikt gemeint, dass sich das Kind nicht zwischen Mutter und einem eigenen Leben entscheiden kann / will? Hier wäre zu betrachten, welche Auswirkungen der Start in ein eigenes Leben mit vorheriger räumlicher Ablösung von der Mutter verursachen würde (Eigenverantwortung, eigener Haushalt usw.)

Mutterkomplex als Beziehungskiller?

„Der Mutterkomplex“ ist nicht die Ursache für Probleme in der Beziehung auf der Ebene von Ehe und Partnerschaft. Auch hier wäre es zu kurz gegriffen, einem Mann eine frühkindliche Störung zu attestieren, um ihn aus der Verantwortung für seine Lebensgestaltung zu nehmen.

Es ist unerheblich, wie eine Kindheit verlaufen ist (wenn nicht schwerste Misshandlungen stattgefunden haben), denn die Mannheimer Kohortenstudie hat schon vor Jahrzehnten den Nachweis geliefert, dass unabhängig von der Kindheitsherkunft eine gedeihliche Entwicklung des Menschen möglich ist.

Sehen Sie sich auch mal das Buch Gedankenwohnung an. Seit dem Jahr 2013 haben schon viele Menschen davon profitiert.

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