Bezogene Individation: der goldene Weg in ein Erwachsenwerden, bei dem alle in Beziehung bleiben können
Wie oft hört und liest man: Kinder brechen nach dem Auszug aus der elterlichen Wohnung den Kontakt ab. Sie ziehen weit weg und verlieren den Bezug zum Elternhaus. Auf der anderen Seite gibt es auch solche Fälle, in denen Kinder mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Verstrickung bleiben. Entwicklung wird als Bedrohung erlebt oder als Undankbarkeit.
Der Begriff „Bezogene Individuation“ beschreibt anschaulich, was als Idealfall im Ablösungsprozess von den Eltern gelten darf: Die Kinder entwickeln ihr eigenes Leben, eigene Werte und Ziele. Diese können sich selbstverständlich von den Ideen aus dem Elternhaus unterscheiden.
Maßgeblich ist es bei der bezogenen Individuation, dass die Eltern und die Kinder einander in achtungsvoller Weise verbunden bleiben, auch wenn zwischen ihnen Kontinente und Weltmeere liegen. Ein friedlicher und konstruktiver Ablösungsprozess vom Elternhaus kann gelingen.
Bezogene Individuation – was ist das?
Bezogene Individuation: Helm Stierlin prägte diesen Begriff. Er beschreibt die gesunde Art der Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern.
- Die Kinder können sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten frei entfalten und entwickeln.
- Die Eltern lassen ihren Kindern allen erforderlichen Freiraum und akzeptieren, dass diese ihre eigenen Wege finden
Die bezogene Individuation kann in Form eines Rituals stattfinden. Der Auszug aus dem Elternhaus ist eine Zäsur für alle. Er hat auch eine rituelle Bedeutung. Ähnlich wie beim Verlassen des Nestes, ab dem der Jungvogel sich ins Wagnis des eigenen Fluges stürzt – und besteht – ist auch die Tochter bzw. der Sohn auf dem Weg in eine ungewisse Zeit.
Eltern und Kinder lernen, Unsicherheit auszuhalten und sich in ihr einzurichten
Beide Seiten – Eltern und das Kind – können sich dadurch gegenseitig Kraft geben, dass sie einander versichern:
- Auch wenn ich Dein / Euer Haus jetzt mit Dank für alles verlasse und ab jetzt an einem anderen Platz esse, schlafe und nachdenke, bleibe ich mit Euch in herzlicher Verbundenheit.
- Auch wenn wir Dich einerseits schweren Herzens ziehen lassen, so ist uns das Herz auch wieder leicht: weil wir darauf vertrauen, dass wir einander verbunden bleiben. Wenn Du uns ein Signal gibst, sind wir für Dich da. Wie wir auch wissen, dass Du uns zur Seite stehen wirst, wenn wir Deine Hilfe einst erbeten in einem Rahmen, der für Dich gesund ist.
Wer sich so voneinander verabschiedet, kann sich schon beim Lebewohl auf das Wiedersehen freuen.
Alle Beteiligten erfahren einen stärkenden Bezug zueinander. Auf der Basis von Freiheit und Respekt, verbunden mit einem offenen Herzen für die Anliegen aller, können Kinder und Eltern gleichermaßen akzeptieren, dass neue Zeiten gekommen sind nach der Kindheit und der Adoleszenz.
Was heißt Individuation sprachlich?
Wörtlich heißt Individuation: unteilbar machen. Mit Bezug auf das Individuum könnte man Individuation als die Herstellung oder Entwicklung der Identität bezeichnen. Der Psychiater C. G. Jung (1875–1961) prägte Individuation als Begriff für den Vorgang der Selbstwerdung eines Menschen. In der Selbstwerdung würde dem Individuum immer deutlicher klar, dass es für sich selbst steht (Bewusstsein der eigenen Individualität und Identität).
Was heißt Individuation mit Blick auf die Beziehung – auch zu sich selbst?
Aus heutiger Sicht würde man nicht mehr davon ausgehen, dass an einem bestimmten Stichtag der Prozess der „Selbstwerdung“ abgeschlossen wäre. In Gegenteil. Individuation ist ein nie endender Vorgang. Denn mit jeder Erfahrung und Erkenntnis kommen neue Anteile hinzu, die am einen Tag unteilbar mit einem Menschen verbunden sind – und an einem anderen Tag sind es andere.
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Schuldgefühle beim Kind, weil es „scheitert“