Die Geschichte vom unsichtbaren, aber wirksamen Nabelband
Eine Mutter hatte einen Sohn. Dieser war gesund zur Welt gekommen.
Aber die Mutter beschloss einige Zeit nach der Geburt, ihm das Leben besser doch nicht ganz und gar zu schenken, sondern einen Teil für sich zurückzunehmen, ein Stück vom Leben einzubehalten.
Das würde ihr die Zeit im Alter sichern, wenn ihr Leben in die Jahre ginge. Und so fesselte sie den Sohn an sich mit einem unsichtbaren Band. Sichtbar war von außen nur, wie dort in goldenen Lettern das Wort Liebe stand. Aber das Band war durch und durch aus dünner Angst gewoben. Damit die Angst nicht auffiel, hatte sie es in ein unriechbares Parfum getaucht.
Es wurde jedem schwindlig, der in seine Nähe kam, keiner konnte sich den Schwindel erklären. Und niemand konnte das Parfum als Tarnung auch nur ahnen. Um das Band fest zu verknoten, umwickelte die Mutter den Sohn 55mal mit Ohmachtsanfällen, Weinen, Wut und Einsamkeit. Keinen Schritt sollte der Sohn fortan tun, ohne sie zu beruhigen, sich nach ihrem Befinden zu erkunden.
Auch in seinen Träumen tauchte sie bei ihm auf, tanzte wie ein Schwan mit gebrochenem, blutendem Flügel über eine Fläche aus blauem, sehr dünnem Eis, jederzeit in Gefahr, einzubrechen und zu versinken.
Doch es war ein Schauspiel.
Und sie unternahm es fortwährend, ihn in Unruhe zu versetzen, damit er zu ihr kam, ihr alles berichtete aus seinem Leben, ihr einen festen Anteil gab, sie hineinsehen ließ. Nichts sollte ihr entgehen, nichts das Band gefährden, das sie so fest um ihn gewickelt hatte.
So wurde der Sohn an Körpergestalt stattlich, groß und schön. Doch durch das unsichtbare Band verkümmerte in seinem Herzen aller Mut. Der Mut schwand, bis er davon nur noch so viel hatte wie ein kleines Kind.
Gehorsam folgte er allen Anweisungen.
Eines Tages aber erschien dem Sohn im Traum ein Bote. Der offenbarte ihm, was damals geschehen war. Die Rettung aus der Bindung würde, so schwer sie auch wog, nicht schwer sein. An dem Band aus Angst, das die Mutter um ihn geschlungen und geknotet hatte, war eine schwache Stelle. Dort war der Stoff des Bandes nicht durch und durch mit Angst besetzt.
Hier war durch Unachtsamkeit auch etwas von der Kraft der Mutter eingewoben. Das Band würde sich von alleine lösen, sobald der Sohn dreimal an der richtigen Stelle mindestens zu sich selbst sagen würde:
„Nein, ich kann nicht der Versorger und der Nabel meiner Mutter sein. Nabelband, löse dich, der starke Vogel fliegt frei seinen Weg über alle Täler, Flüsse und Berge.“
Dies gesagt, würde sich das Band lösen, und die Mutter würde ablassen von ihm alle Tage und für sich selbst sorgen mit ihrer eigenen Kraft.