Vergangenheit: Definition, Bewältigung, Gegenwart, Zukunft – und Überraschungen

Der Begriff Vergangenheit beschreibt zeitlich zurückliegende Begebenheiten und Ereignisse. Was in den Geschichtsbüchern oder im Familienalbum steht, zählt zur Vergangenheit. Wenn wir „gestern“ oder „damals“ sagen, bezeichnen wir damit das Ehemalige, das Vergangene. Viele Menschen leben in der Vergangenheit und kommen daher nicht in der Gegenwart an. In diesem Beitrag erfahren Sie Neues über die Vergangenheit (auch wenn sie eigentlich schon vorbei ist).

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Es gibt keine Vergangenheit

Vergangenheit auf einem alten Bild – wie wirkt das damals Erlebte im Rückblick heute?

Vergangenheit auf einem alten Bild – wie wirkt das damals Erlebte im Rückblick heute?

Für das Gehirn gibt es die Vergangenheit nicht.

Wie das, fragen Sie? Aber ich erinnere mich doch ganz genau, wie das war damals …

Wenn Sie sich etwas in Erinnerung rufen, dann rufen Sie in Ihrem Gehirn gespeicherte Sequenzen und Gruppen von Sequenzen auf. Der Mensch hat ein Episodengedächtnis. Je nachdem, was am stärksten in Erinnerung ist – Bilder, Gerüche, Klänge, Empfindungen – wird irgendwo im Gehirn ein Erinnerungsnetzwerk aktiv.

Das Gehirn setzt das Verfügbare zu einem heute aktuellen – weitgehend neuen – Bild zusammen. Dieses Bild entspricht keineswegs immer genau dem, was ein Dokumentarfilmer über die Szene von damals festgehalten hätte. Erinnerung ist etwas Bruchstückhaftes. Deshalb ist es hilfreich, Aktennotizen und Fotos anzufertigen. Aber selbst dann: Stets mischt sich in eine Erinnerung eine Bewertung hinein – und somit eine emotionale Komponente.

Die Vergangenheit wird bei jedem Gespräch oder Nachdenken über das Geschehene frisch rekonstruiert. Dabei kann es neben Teilamnesie auch zur Konfabulation kommen (das ist die Dazudichtung von Tatsachen, die es gar nicht gab).

Das erklärt z. B. auch das Phänomen erheblich voneinander abweichender Zeugenaussagen.

Bei Interesse an einer Aufbereitung oder sogar Bewältigung der Vergangenheit lohnt sich ein Blick auf das heute vorhandene Wissen, auch die Erkenntnisse aus der Hirnforschung.

Vergangenheit ist oft Verfangenheit

Viele Menschen hängen mental und emotional in dem fest, was sie für ihre Vergangenheit halten: wie die Nadel eines Plattenspielers am Ende der Platte hängt und im Lautsprecher ein schleifend-knackendes Geräusch erzeugt.
Von der Platte, die sie für ihre Vergangenheit halten, ist natürlich nichts Neues zu erwarten.

Wer diese alte Platte immer wieder auflegt, leidet unter seinem Umgang mit dem, was damals war. Kein Mensch kann unter der Vergangenheit an sich leiden.

Der Mensch leidet darunter, dass er nur eine Version von seiner Vergangenheit erzählt … meistens im Konjunktiv: „Wäre es damals anders gewesen, dann könnte ich heute …“

Die Vergangenheit kann keine Verantwortung übernehmen

Die oft gehörten Geschichten, das Leben hätte so gut sein können, wenn da nicht eine so schlechte Vergangenheit gewesen wäre, sind natürlich nicht beweisbar:

  • Wer könnte mit Sicherheit sagen, ob ein Mensch wirklich das Studium absolviert hätte, wären seine Eltern nur nicht so arm gewesen.
  • Wer kann den Nachweis erbringen, dass er seinen Traumberuf ergriffen hätte, wenn nicht damals das elterliche Unternehmen weitergeführt werden sollen?
  • Wer wollte beweisen, dass es nicht zum Familienzerwürfnis gekommen wäre, wenn seine Großeltern und Eltern das Erbe auf Heller und Pfennig gerecht aufgeteilt hätten?
  • Wer weiß.
  • Sicher ist: Vergangenheit an sich ist ein historisches Phänomen. Phänomene sind keine Personen und können daher keine Verantwortung übernehmen.

Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern – doch der Umgang mit ihr ist frei wählbar

Bei den Tatsachen, die zeitlich zurück liegen, haben wir keine Wahl.

  • Wir haben eben genau diese und keine anderen Eltern.
  • Wir sind an diesem einen Ort geboren.
  • Wir sind in diese Schule gegangen und hatten genau diese Lehrer.
  • Wir haben Beziehungen angefangen und gelöst.
  • Wir haben Geld verdient und womöglich auch Besitz verloren.

Der Versuch, die Vergangenheit durch inneres Aufrechnen und grübelnde Sitzungen im Selbstgericht nachträglich zu ändern, muss scheitern. Und er kann in Zustände von Depression führen.

Entscheidend ist nicht so sehr, was einst war. Entscheidend ist, wie ich heute damit umgehe.

  • Meine Vorfahren haben mir eine Scheune voller Holz hinterlassen – unbehandelt. Bis ich das alles verbrannt haben werde!
  • Meine Vorfahren haben mir eine Scheune voller Holz hinterlassen – unbehandelt. Was ich daraus bauen kann …

Vergangenheit und Verantwortung

Ich habe einst einen Mann um die sechzig getroffen, der seinen Eltern bittere Vorwürfe machte: weil sie ihn gezeugt hätten. Wie konnte man nur, so seine Klage, in derart unsicheren Zeiten ein Kind in die Welt setzen? Dies ist eine wahre Begebenheit. Der Mann schien mit passabler Gesundheit ausgestattet zu sein. Er äußerte sich keineswegs wirr. Was er da sagte, war offensichtlich sein Ernst. Dieser Mensch konstruierte also aus der Verantwortung für seine nackte biologische Existenz die fortdauernde Verantwortung der Eltern für sein gesamtes Leben. Kein Wunder, dass er sich auch sonst über alles beklagte, was in seinem Leben auftauchte oder was ihm verschlossen blieb.

Es gibt auch andere Beispiele. Wir könnten über die KZ-Vergangenheit von Viktor E. Frankl lesen und uns ansehen, was er mit dieser Vergangenheit angefangen und vollendet hat.

Wir können uns die Mannheimer Kohortenstudie ansehen.

Die Mannheimer Kohortenstudie – Vergangenheit muss kein Schicksal erzeugen

Natürlich kann es prägend wirken, wenn ein Mensch in Friedenszeiten auf dem Land geboren ist. Es hat ebenfalls Auswirkungen, wenn die Geburt eines Menschen in Kriegswirren erfolgt.

Die pauschal erzählte Geschichte vom schlechten Schicksal durch schlechte Umgebungsbedingungen und die eigene Urzeit ist eine Mär.

Die Vergangenheit ist nicht schuld an der Gegenwart. Mit ausreichender Tendenz bestätigt wurde dies durch die Mannheimer Kohortenstudie (Lieberz et al. 2011). Bei der Mannheimer Kohortenstudie handelt es sich um die 30 Jahre dauernde Untersuchung und Begleitung von 600 Mannheimern mit den Geburtsjahren 1935, 1945 und 1955. Es sollte untersucht werden, ob und inwiefern frühkindliche Traumata – in erster Linie kriegsbedingt – als Auslöser für psychosomatische Erkrankungen im Erwachsenenalter gelten können. Ohne hier im Detail auf das Studiendesign und die differenziert zu betrachtenden Ergebnisse eingehen zu können, seien zwei Zitate aus den Studienergebnissen genannt:

  1. „Auch zwischen einer etwaigen späteren Traumatisierung durch schwere Schicksalsschläge und dem Vorliegen einer seelischen Störung im Sinne dieser Studie ist kein Zusammenhang festzustellen.“
  2. „Zwischen der hier erhobenen kumulierten Traumabelastung aus Kriegszeit und späterer Lebenszeit und der späteren Falleigenschaft [z. B. psychosomatische Erkrankung] besteht kein eindeutiger Zusammenhang.“ (Lieberz et al. 2011)

Nähere Informationen: https://www.springer.com/de/book/9783642130564

Definition von Vergangenheit – nicht so einfach

Wann erzählt ein Mensch von „damals“?

Jetzt. Von damals erzähle ich im Hier und Jetzt. Auf der physikalischen Ebene gibt es einen Unterschied zwischen dem jetzigen Moment und dem Augenblick von vorhin oder der Zeit damals. Ein Blick auf die Uhr oder auf den Kalender beweist das. Und doch: Die Vergangenheit ist für das Erleben kein vergangener Zustand, sondern eine immer neue Nacherzählung. Mehr noch: Vergangenheit ist auch ein Nach-Erleben.

Die erlebte Aktualität von Vergangenheitsepisoden lässt sich einfach erkennen. Ein Mensch, der eine früher aufregende Begebenheit nacherzählt, kann auch jetzt aufgeregt wirken: obwohl das in der Vergangenheit Aufregende gar nicht mehr vorhanden ist.

Warum ist die genaue Betrachtung von Vergangenheit entscheidend?

Wollen Sie Ihren Leben, den aktuellen Moment und die folgende Zeit möglichst frei gestalten? Dann können Sie Ihre Vergangenheit nicht als Vorläufer Ihrer Gegenwart definieren. Wer Vergangenheit wie ein Kapitel in einer Fortsetzungsgeschichte erlebt, schreibt heute, morgen und übermorgen ein Folgekapitel nach dem anderen – immer mit der Vergangenheit als Vorlage, als Vorgeschichte. Bei einer als günstig erlebten Vergangenheit kann sich das als nützlich erweisen. Wenn Sie heute ein besseres Leben erleben wollen als in einer unerfreulichen Phase Ihres Daseins, kann das Heute keine Fortsetzungsgeschichte sein.

Ein echtes Heute ist wie eine phantasievolle, neue Kurzgeschichte oder ein Gedicht. Wir verwenden bekannte Wörter in einem neuen Zusammenhang.

  • Etwas wirklich Neues und Schönes können wir nicht mit altem, angerissenem oder ausgeblichenem Garn (alter Misserfolg, Benachteiligungen usw.) weben.
  • Ein neuer Tag kann Erinnerungen enthalten. Aber er ist nicht die Erinnerung oder das Vergangene. Der neue Tag ist so neu wie die Geschichte, die der Mensch an ihm schreibt:

Jeder kann verschiedenes Geschehenes in unterschiedlicher Weise beschreiben:

  • als eigenen Fehler, für den der Mensch die Verantwortung übernimmt
  • als fremden Fehler, den er nicht verzeihen wird
  • als Zäsur im Leben, die einen neuen Weg eröffnete
  • als Ressource, die er nutzt
  • als Ressource, die er als Last beschreibt (z. B. Kreativität, die mit einem Menschen ständig „durchgeht“, was es ihm schwer macht, sich zu entscheiden)
  • als Erbe, das auf seinen Schultern liegt … oder als Erbe, auf dem er sich einen Weg bahnt

Ist Vergangenheitsbewältigung möglich?

Wenn jemand davon spricht, er hätte seine Vergangenheit bewältigt, so stimmt das nicht genau

Wer Frieden mit dem geschlossen hat, was einmal war, erlebt diesen Frieden im Jetzt.

Keiner kann sich in eine Zeitmaschine setzen, zurückreisen und die Ereignisse von damals bewältigen. So, als würde man dort hingehen und das Vergangene besiegen.

Nützlichere Begriffe als Vergangenheitsbewältigung könnten „Vergangenheitsintegration“ oder „Vergangenheitsnutzung“ sein. Was ist damit gemeint?

Vergangenheit und jede Menge Überraschungen

Sie wollen Ihre aktuelle Situation positiv verändern? Auch das, was künftig sein wird?

  1. Suchen Sie etwas, das Sie bisher in Ihrer Vergangenheit als Ursache oder Auslöser für Ihr heutige Leben oder Dilemma oder Problem definiert haben.
  2. Wenn etwas in Ihrem heutigen Leben negativ auftaucht, auf das Sie damals Einfluss hatten bzw. woran Sie beteiligt waren – nehmen Sie es an. Beschreiben Sie es neu.
  3. Wenn es etwas ist, was damals außerhalb Ihrer Kontrolle war – nehmen Sie es an. Beschreiben Sie es neu.

Also einfach „Schwamm drüber“ über das Ehemalige?

Vergangen ist vergangen – dies zu sagen allein ist nicht immer ausreichend. Es kann passieren, dass eine innere Seite sich übergangen fühlt, die seinerzeit in einer real erlebten Notlage war.

Was sich damals zugetragen hat, hatte Auswirkungen. Und zwar in der Weise, wie Sie es bisher beschrieben hatten. Wenn ein Mensch ein einschneidendes Ereignis – etwa die Scheidung der Eltern – fortwährend als Katastrophe oder als unverzeihliches Versagen definiert, dann erlebt er das Geschehene in der Endlosschleife. Die Bewertung als Katastrophe setzt voraus, dass es immer noch eine andere Idee von damals gibt: beispielsweise die Fortsetzung der Ehe der Eltern in guter Weise. Da diese Fortsetzung nicht denkbar ist, bleibt die emotionale Rechnung dauerhaft offen. Eine Forderung steht im Raum, die zum Vorwurf wird. Hier erlebt sich der Mensch auch als Opfer der Umstände.

Und nun die andere Geschichte: Beispiel Scheidung der Eltern

Wie wirkt es, wenn Sie sich die Geschichte von der Trennung der Eltern damals so erzählen?

Es ist ihnen nicht gelungen, einen gemeinsamen Weg zu finden. Aber immerhin hatten sie die Gelegenheit, für mein Vorhandensein in dieser Welt zu sorgen. Also ein durchaus gutes Ergebnis des Zusammentreffens zweier Menschen. Mit diesem Ergebnis mache ich weiter: entwickle mich. Und was ich in Form von Streit, Ehekrieg und anderen Auseinandersetzungen gesehen und gehört habe, lege ich nicht mehr auf die Waage, sondern ins Regal. Oder ich gestalte eine Galerie. Ich kann daran vorbeigehen wie an einer Ausstellung. Wenn ich mir die traurigen und verletzenden Momente in dem Regal oder der Galerie ansehe, halte ich inne und stelle fest:

  • Damals ging es vermutlich nicht anders – es haben ihnen die Mittel gefehlt, die Informationen, die Distanz zu sich selbst, die Ideen von einer besseren Beziehung.
  • So war das damals.
  • Daran merke ich, dass heute nicht identisch mit damals ist, mit dem Vergangenen.
  • Die Eltern haben sich getrennt. Ich bin da.
  • Ich kann Kopien von dem anfertigen, was im Erinnerungsregal liegt und das Schicksal nennen.
  • Dort im Regal oder der Galerie befindet sich womöglich auch Gutes.
  • Niemals aber sind die Ereignisse von damals identisch mit dem, was was heute ist.
  • Die vergangenen Ereignisse erzeugen nicht das Heute und veranlassen mich zu keiner Handlung und keinem Gedanken.
  • Ich kann mich jederzeit entscheiden, andere Ereignisse und Episoden in meinem Leben zu gestalten.

Weiterführende Informationen, die mit der Neubewertung von bisher Gedachtem zu tun haben:

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